Bosparanisches Blatt
Horasische Gerechtigkeit

Der Firunmond war bitterkalt, selbst im neuen Bosparan, der Kaiserin Residenzstadt. In der Nacht hatte sich Ifirns Hauch wie ein weißes Leichentuch über Dächer und Straßen gebreitet. Alles war bereitet für den letzten Gang Alamad ya Barigeldis.
Fern über die Gipfel der Goldfelsen fielen die ersten Praiosstrahlen in die fruchtbaren Lande am Yaquir, die nun unter der ungewohnten Kraft des grimmen Firun zitterten. Schwester Aridana d'Allegretto-Sandfort ließ die Tür zu Alamads Zelle von einer der sie begleitenden Garden öffnen, knarrend gab sie den Blick frei auf einen kleinen, rechteckig gemauerten Raum, dessen kärgliche Einrichtung nur zu gut verdeutlichte, daß kein Gast hier zu längerem Verweilen vorgesehen war. Der Verurteilte lehnte an der kahlen Steinmauer neben dem vergitterten Fenster und beobachtete reglos, wie sich Praios' flammendes Auge gravitätisch und ehrfurchtgebietend in den kalten, klaren Wintermorgenhimmel erhob. Den Ringen unter seinen Augen nach zu urteilen hatte er in der vergangenen, einsamen Nacht nicht geschlafen - Aridana konnte es ihm nicht verdenken. Auch in der schlichten, grauen Leinenkleidung eines Gefangenen stand Alamad aufrecht, mit jedem Spann der disziplinierte Arbalettier der Kusliker Garde, der er einst gewesen. Und doch war er ein verurteilter Verbrecher, schuldig befunden des versuchten Giftmordes an einer Baronin des Mittelreiches.
"Es ist Zeit, Alamad ya Barigeldi", erhob die Praiosgeweihte die Stimme. Alamad drehte ihr und ihren vier Begleiterinnen den Kopf zu: "Schon?" Seine Stimme war heiser, fast fiebrig, und nackte Angst blakte in seinen braunen Augen. "Satinav meint es nicht gut mit mir." Er machte einen Schritt auf die Gruppe an der Tür zu, und Wut stahl sich in seinen Blick: "Es ist eine Schande nach jedem guten Recht, daß horasisches Blut wegen einer mittelreichischen Metze vergossen werden soll !"
"Darüber zu urteilen steht mir nicht zu. Der Horashof hat entschieden, und bald werdet Ihr vor den Richter aller Götter und Menschen treten müssen, Praios! Mein Sohn", fuhr Aridana sanfter fort, "wenn Ihr Eure Seele erleichtern wollt, so ist nun die Zeit gekommen, auf daß Ihr in des Herren Praios' Paradies eingehen mögt."
Alamad, der letzte Erbe einer unglückseligen kusliker Ministerialfamilie, verzog abfällig das Gesicht, setzte zum Sprechen an, und verstummte noch vor dem ersten Wort. Schweigend nahm er von einer Garde eine Wolljacke entgegen, streifte sie über - 'ich soll mich wohl auf dem Gang zum Richtblock nicht erkälten?', dachte er, den Gedanken an diesen furchtbaren Weg verdrängend. Er hatte nie viel mit den Pfaffen zu tun gehabt, anasatinavistisch erschienen sie ihm im Horasreich des sechsundzwanzigsten Jahrhunderts. Die hesindianische Forschung hatte doch bewiesen, daß viele Annahmen und Aussagen der Kulte über das Wesen der Götter schlicht falsch waren. Vielleicht hätte er ohne dies Wissen Trost aus den Worten der Geweihten ziehen können, so aber erschienen ihm ihre Worte überflüssig. "Nichts?" fragte sie enttäuscht, "nun, Barigeldi, so folgt mir bitte zu Eurem letzten Mahl." Aridana wandte sich zum Gehen. 'Als wenn ich noch eine Wahl hätte.' Flankiert von den Gardistinnen schritt Alamad gesenkten Hauptes hinter ihr her.

"Im Namen Ucuris des Gerechten und Horas des Heiligen erbitte ich Deine Gnade und Gerechtigkeit Praios, oh Herr, für diesen armen Sünder..."
In der Mitte des weitläufigen Hofes war das Podest mit dem Richtblock aufgebaut worden. Die Sonne reichte noch nicht in das von einer leise murmelnden Menge erfüllte Platzes inmitten von Gerichts- und Gefängnisgebäuden, Dampf stieg von Mündern und Nasen empor. Der Geschmack des feinen Mahles, das er eben weniger genossen als hinuntergewürgt, mischte sich in Alamad ya Barigeldis Mund mit dem von Galle und Angst. 'Das kann alles nicht sein! Dies ist nur ein böser Traum! Du wirst nicht sterben!' flüsterte eine panische Stimme in seinem Kopf, wurde überlagert vom Gebet der Geweihten.
"...denn er war fehlgeleitet, seine Hand zu erheben gegen eine Adelige, die nach Deinem Willen herrscht. Fehlgeleitet vom Haß, dem wispernden Boten dessen Namen man nicht nennt, fehlgeleitet vom Schmerz ob des schmählichen Todes seines Bruders Emerald..."
Mit blankgezogenen Säbeln flankierten die Garden den jungen Mann, der dicht gefolgt von Aridana zum Schafott schritt. Eine einzelne Stimme erhob sich aus der gaffenden und tuschelnden Menge: "Hoch lebe Alamad ya Barigeldi !" "Hoch, hoch!" - die Rufe waren eher verhalten, wohl wollte keiner seiner Sympathisanten ein Eingreifen der zahlreich anwesenden Gardisten provozieren.
Gehetzt eilte sein Blick an dem Spalier der schweigenden, als Schutz gegen die Kälte warm eingekleideten Menschen entlang, blieb an den Stufen zum Richtblock hinauf hängen. Seine Gedanken rasten schneller als selbst im Gefecht: Dort konnte nur eine Person auf einmal hinauf, einen Moment würde er nicht von seinen Bewacherinnen eingekreist sein! Dann war der Augenblick auch schon heran, und wie die bleierne Kugel einer Balestrina schoß der Verurteilte los, sprang mit einem gewaltigen Satz in die Menge, die erschrocken aufquiekend auseinanderstob. Wie ein Wahnsinniger pflügte Alamad durch den See aus unbekannten, überraschten Gesichtern, stürmte dem nicht mehr fernen Torbogen zu, der Freiheit versprach und Leben. Es schien, als sähen sich die hinter ihm und von den Ecken des Hofes her eilenden vinsalter Gardisten von der Menschenherde mehr behindert als er. Er wußte, er konnte es schaffen.
Nur noch wenige Schritte trennten ihn vom Tor, das auf die breite Straße führte. Er würde ein Roß akquirieren müssen, doch davon gab es im neuen Bosparan genug. Eine dunkle Gestalt trat ihm plötzlich in den Weg, Alamad war so überrascht, daß er in die ausgestreckte Faust des kleinen Fremden lief, der ihn aus blaugrünen Augen höhnisch ansah. Die Wucht des Schlages traf ihn derart, daß er mitten im Laufe zurückprallte und zu Boden stürzte; noch im Fallen erkannte er den metallischen Schimmer eines Gauntlets an der Hand des Fremden, der sich rasch über ihn beugte.
"Warum? wirst Du nun fragen, Barigeldi, nicht?" Der Unbekannte wartete nicht auf eine Antwort, sondern schlug die Kapuze zurück und enthüllte blonde Locken über einem Gesicht, das kaum älter sein konnte als Alamads. "Du sollst Deiner gerechten Strafe nicht entgehen. Denn nicht allein für Deinen versuchten Giftmord an der Trappenfurtnerin wirst Du gerichtet werden, sondern stellvertretend für Deine verbrecherische Familie, deren Taten Farian damals nicht konnte rächen. Denn nach Emeralds Tod bist Du der letzte Erbe des intriganten Malevizio ya Barigeldi, der uns ya Aragonzas diskreditierte und in Armut stürzte."
Sich am kalten Boden vor Schmerzen krümmend erkannte Alamad nun, wer da vor ihm stand. So überlebt uns die Sippe der Aragonzas doch, resignierte er, als ihn die Gardistinnen hochhoben und zum Richtplatz trugen. Sie werden aus dieser alten Fehde siegreich herausgehen, und nimmermehr wird ein Barigeldi ihnen den Zutritt zur Kusliker Garde verwehren können. Jahrzehnte hatte der Zwist zwischen den beiden Familien geschwelt, und nun waren all die Erfolge, die Malevizio, sein greiser Vater nach dem Mord an Garamond ya Barigeldi gegen die verfeindete Sippe erzielt hatte, ins Gegenteil gekehrt worden. Die Barigeldis würden ohne Erben sein, wohingegen die Aragonzas zu ihrem alten Ruhm aufstreben konnten.

Im Erkenntnis nicht nur seiner endgültigen Niederlage ließ sich Alamad ohne weitere Gegenwehr vor dem Henker niederknien. Der Henkersknecht, ein nach Schweiß stinkender Bulle von einem Mann mit der traditionellen braunen Kapuze, legte Alamads Kopf auf den Block. Dumpfer Trommelwirbel erklang und eine einsame Fanfare intonierte "Boron, nimm uns gnädig auf". Die Praiosstrahlen erreichten den Hof, streichelten das tränennasse Gesicht des Todgeweihten, um dessen Schultern sich der eiserne Griff des Knechts gelegt hatte.
In unwirklicher Klarheit vernahm Alamad das leise Gebet Aridanas, die am Rande des hölzernen Podestes stand: "...wenn er auch Schuld auf sich geladen und Deiner Gerechtigkeit entfliehen wollte, oh Praios, so sei doch gnädig mit seiner Seele, die in wenigen Augenblicken vor Dich treten wird..."
Ein Lichtstrahl fiel auf die glänzende Schneide des Richtschwertes, das der Henker nun erhob, verwandelte es in Alamads Augen in ein strafendes Götterschwert. Der Henker trat einen Schritt vor - seine Schürze wird besudelt werden, fuhr es dem Verurteilten durch den Kopf - und die Klinge sauste herab.

Die Menge der adeligen und hochangesehenen Gaffer hatte sich zerstreut, nachdem das grausige Schauspiel beendet war. Nur unter einer Arkade des Hofes, vom Weinlaub vor neugierigen Blicken gut geschützt, standen noch ein Mann und eine Frau beieinander, tauschten leise Worte.
"Er hat alles vermasselt. Wir hätten einen Märtyrer gebraucht, keinen Verbrecher, der einen Fluchtversuch unternimmt!" beschwerte sich die Frau mit keifender Stimme. "Da habt ihr wohl recht, Esquiria Grangor. Doch habe ich Euch nicht gesagt, der Bursche würde es nicht durchstehen? Er mag vom Blute Bosparans sein, aber wie so viele Adelige ist er durch mittelreichischen Einfluß verweichlicht. Allein sein Scheitern im Mittelreich zeigte doch, daß er nicht den Anforderungen unserer Loge entsprach." "Ihr hattet leider recht, Esquirio Bethana. Für unsere Loge war diese Hinrichtung kein Erfolg, nicht einmal ein "Hoch auf den Bund" konnte Esquirio Kuslik aussprechen." Sie klang gelangweilt: "Nun muß es neue Möglichkeiten geben, wie wir der Sache des "Bund vom Blute Bosparans" wieder zu Glanz verhelfen. Ich hätte da eine Idee..."
Leise plaudernd schlenderten die beiden aus dem Hof, ließen die Bühne des letzten Aktes eines drei Götterläufe umfassenden Dramas hinter sich.


Wolf-Ulrich Schnurr