Abschied von Cedor Khelianada
Zwölfmal klang der Gong. Letzte Mitternacht des Jahres, Anbruch der Tage des Namenlosen. Die von Phex und Efferd gesegnete Stadt fand keinen Schlaf. Auf der jahrtausendealten Reichsstraße des Seneb-Horas drängte sich eine dichte Menschenmasse. Vor dem Vinsalter Tor war eine Ehrenformation erzherzöglicher Reiter angetreten. Schwarz, Weiß und Rot reihten sich Frauen und Männer im rußigen Rot rauchender Fackeln. Tiefes Schweigen hatte die Menge ergriffen, wie in Vorahnung geschichtlicher Ereignisse. |
Der Leichnam lag öffentlich aufgebahrt. Er blieb in der Sankt-Sulvo-Sakrale, von Cedors Ahnen gestiftet. Seit dem Fall des Vaters war ihm der Palast verschlossen, wofern des Prinzen Gnade nicht Gastrecht gewährte. Zum ersten Mal stand Rahjas Tempel an Tagen ohne Namen offen. Viel Volk betrat zum ersten Mal ein Haus der Schönen Göttin. Der gewohnte Kult stand still.
Eine lange Reihe schwarz gekleideter Granden schritt durch die Salæ Magnificæ. In der Sala Alverana erwartete Lutisana in düsterer Pracht, schwarzem Schleier und Silberspitze, die protokollarischen Bekundungen des Beileids. Alle großen Familien des Wiedergeborenen Reiches hatten Vertreter entsandt. Visitenkarten mit dem Vermerk p.c. (pro condolare) wurden feierlich verlesen. Nicht wenige Landsleute Lutisanas trugen die alte Gräfin-Tharinda-Medaille zur Schau. Die Dankesworte der Witwe waren reinste Rhetorik. |
Am traurigsten aller Tage des Jahres, am Grund des Jammertales, gab Neetha seinem Sohn das letzte Geleit. Es war ein südlicher Frühlingsabend, der Vorabend des Sonnwendfestes. Die lauen Nächte, die milde Luft dieser Tage verhießen einen Sommer von großer Schönheit. Über dem Rahjamond des alten Jahres hing ein Hauch wie süßer Abschiedsschmerz. Die Stunde des Abschieds war gekommen. Tief stand das Tagesgestirn, zürnend flammte das Firmament. Der weite Ozean im Westen glühte wie ein Meer aus flüssigem Gold. Leere Straßen schimmerten wie Ströme, an deren Ufern zahllose Menschen warteten. Ihre Arme und Gesichter, ihre weißen Tuniken: rotgolden, die Augen glänzten in der Dämmerung.
Cedors Feldzeichen führte den Kondukt an. Unter dieser Fahne war er in die Dritte Dämonenschlacht gezogen und gefallen. Sie war so zerhauen, zerfetzt, durchstochen, aufgeschlitzt und von geronnenem Blut besudelt, daß die Wappenbilder kaum noch kenntlich schienen. Goldene und silberne Fäden, Flecken von Rot und Blau und auch ein wenig Grün blitzten auf. Man mochte ein Pferd ahnen, daneben ein großes rotes Tier, und war da nicht ein Schwertgriff? Fahnenträger Selo war einziger Überlebender aus der Dritten Schar der Trabantengarde. Trotzig trug er den verbeulten Küraß aus der Schlacht und die zerrissene Uniform in Blau und Rot. Die Lebenden und Toten hatten unsterblichen Ruhm an diese Fahne geheftet.
Hier kam der Tote. Cedor auf dem letzten Weg. Das mythische Licht der sterbenden Sonne rötete und vergoldete das Antlitz des Menschen. Viele sahen ihn durch einen Tränenschleier. Auf dem letzten Weg durch seine Stadt. Der Körper trug Kleidung im Chababischen Stil. Silbern und golden reflektierte sein tulamidischer Spiegelpanzer den Sonnenuntergang. Stutzhose, Beinkleider und Wamsärmel tranken dürstend Abendrot. Die Halskrause aus Drôler Silberspitze funkelte wie Tau in der Dämmerung. Gesicht und Hände leuchteten verklärt: Es war eine Szene jenseits der Zeit.
Heilige Scheu stand in den Gesichtern der Tausende geschrieben. Mit weit aufgerissenen Augen musterten die Kinder das Schauspiel. Seit mehr als fünfzig Jahren, seit dem tragischen Tod des Markgrafen Rondrigo, war dergleichen nicht mehr gesehen worden. Viele fühlten, daß mit diesem Leichenbegängnis eine Epoche zu Ende ging. Mit dem Toten war der einzige Sproß des Markgrafen Phrenos gefallen. Die letzte Hoffnung des Hauses Oikaldiki, das Chababien sechs Jahrhunderte regiert hatte, ging mit ihm dem Scheiterhaufen entgegen. Ein neues Zeitalter dämmerte am Horizont herauf, und niemand wußte, was es bringen würde. |
Alle Löwen falten ihre Flügel,
Langsam, traurig und wehmütig langsam, durchmaß der Leichenzug die Thalionmelgasse. Die Menschen gedachten eines Sommertages vor vielen Jahren, als Cedor hier das Rennen um den heiligen Rock gewonnen hatte. Ein bärtiger, blonder Mann in geflickten Lumpen drängte sich zwischen zwei Gendarmen durch. Ehe ihn jemand hindern konnte - legte er eine blühende Distel zu Füßen des Toten nieder. Einen Augenblick später war er in der Menge verschwunden. Eine raunte es dem andern zu: der Bunte Gorm, jener berühmte Bandit.
Die große Weihehalle des Siegestempels war ganz mit schwarzem Samt ausgeschlagen. Hoch in der dunklen Leere schien das in den Samt gestickte Wappen des Trodinars zu schweben. Gewaltig und geisterhaft zugleich erhob sich die weiße Kolossal-Statue Rondras vor dem dunklen Hintergrund. Vor diesem Standbild hatte schon Thalionmel gebetet. Nur einige wenige Wachskerzen spendeten schwachen Lichtschein von unten. Die Göttin war in ein ärmelloses, reich gefälteltes Gewand gehüllt. Ihre rechte Hand ruhte auf dem Knauf eines Schwertes. Über dem Gewand trug sie einen silbernen Schuppenpanzer, der Schultern und Brust wie ein Kragen umschloß und unterhalb der Brüste endete. Wo der Marmor Stoff vorstellte, war er matt und glatt wie frisches Linnen, wo er Haut darstellte, hingegen poliert, so daß er wächsern schimmerte. Das Gesicht der Göttin war nur noch undeutlich sichtbar, bekrönt durch einen geflügelten Helm. Vor dem wuchtigen Sockel der Statue stand ein marmorner Altar, auf dem die Kerzen in silbernen Leuchtern brannten. |
Öffne nun, Uthar, des Jenseits dunkles Tor / Meinhard von Hasenstein trat zur ersten Lesung vor den Altar. Ein Novize kniete vor ihm nieder und stützte das aufgeschlagene Buch auf seinen Scheitel. Feierliche Stille füllte den Raum. "Lesung aus dem Buch der Regeln. Jenseits des neblig grauen Alltagsmeeres und der hohen Zinnen der Sierra Monotonia liegt Aventurien, das Reich des Schwarzen Auges..."
Wer ewig leben will in Aventurien, :| Vitus Werdegast las aus dem Brevier der zwölfgöttlichen Unterweisung. "Zu Beginn, als die Lebewesen, die von Los kamen, die Welt besiedelten, kannten sie keinen Schlaf, kein Vergessen und keinen Tod. Die Pflanzen blühten, wuchsen und wucherten, bis der Boden nicht mehr zu sehen war. Die Tiere vermehrten sich, und ihre trampelnden Hufe und Pfoten schlugen Sumus Leib tiefe Wunden. Die Menschen zeugten Kinder, die heranwuchsen und wiederum Kinder hatten, und es war kein Platz mehr zwischen ihnen. Die Geister der Menschen sammelten in ihren endlosen Tagen Erfahrungen über Erfahrungen, und unter der Last der Erinnerungen waren sie kaum noch zu einem Gedanken fähig. Das Leben dehnte sich aus, überfüllte die Welt bis zum Ersticken und konnte doch nicht sterben. Da sprach Boron ein Wort - und das Wort war Tod."
Dies Iræ, Dies Illa,
"...Da war aber eine Kriegerin, Thalionmel mit Namen, die war eines Bauern Kind und eine treue Neethanerin. Obgleich sie erst achtzehn Jahre zählte, war sie doch von der Göttin mit Mut und starkem Arm gesegnet. Als sich also gar die Hauptleute zur Flucht wandten, da stand sie auf, ergriff Schwert und Schild und versperrte die Brücke, wo sie am engsten war. Viele der heranreitenden Wilden holte sie mit einem einzigen Schlag aus dem Sattel und ermöglichte so den letzten Soldaten und Landleuten die Flucht ans rettende Ufer..."
Dir zu Ehren kämpfe und streite ich, |
"Rahja ist reine Freude! Die Freude ohne Ziel und Zweck und ohne Grund und nur für sich und aus sich selbst. Verstehst du das? Hast du beim brünstigen Liebesspiel wohl jemals Ihre Nähe gespürt im Augenblick der Gnade? War da nicht deine Seele frei und ihrer sterblichen Bande ledig? Daß Lust und Freiheit eins sind, das lehrt uns die göttliche Rahja. Daß der sterbliche Leib an der göttlichen Wonne schon hienieden teilhaft sein kann, ist Ihr Geschenk an uns. Wer Rahjas Gabe hat verstanden und angenommen ohne Scham, der ist Ihr wohlgefällig, und dessen Seele mag in Ihrem Paradiese Einlaß finden..." "Ooo Su-umu..." Zur Gabenbereitung huldigte die Trauergemeinde der vom Schöpfer erschlagenen Urmutter. Weihrauch stieg in weißen Schwaden auf, während die auserwählte Gabe zum Altar getragen wurde. Aus dem Garten von Burg Eskenderun hatte man einen Pfau gebracht, das unverwesliche Tier und Wappen Cedors. Die jungen Zwillingssöhne des Toten vollzogen die Opferung. Der widerstrebende Vogel wurde von Tilfur auf den kalten steinernen Tisch gelegt und festgehalten. Die Kerzenflammen über den Silberleuchtern erzitterten leicht. Tizzo erhob die Arme gen Alveran und zückte das steinerne Messer.
O Sumu, all mein Leben bist du, ohne dich nur Tod. Vergeblich sträubte sich das Tier. Knabenhand zwang es nieder. Da entfaltete der Pfau sein Gefieder und schlug das Rad. In diesem Lidschlag fuhr das Messer nieder. Heißes Blut spritzte auf den Opfertisch, rann über die Kante der steinernen Fläche und rötete die Hand, die getötet hatte. Es war vollbracht.
Thalionmel war eine Kriegerin, Während die Trauergemeinde das Lied der Löwin von Neetha sang, zogen die Priester Rondras dem Leichnam den heiligen Rock wieder aus. Sie legten die Reliquie behutsam zurück in den gläsernen Schrein. Das Ende der Seelenmesse war nah. Nach kurzer Stille richtete die Äbtissin von Abbadom ein letztes Wort an die Witwe: "Der Kampf um die Schöpfung wird auf dem Boden Aventuriens entschieden. Wir leben in einer Zeit der Helden. Viele rangen mit Borbarad. Wir, die wir den Kelch der Winde wahrten. Sie, die sie das Opfer brachten: Sein und Leben. Einer von ihnen war Cedor Khelianada. Es kam der Tag, da sie entscheiden mußten, zu welchen sie zählen wollten: zu den Gerechten oder zu denen, die überleben. Sie trafen die Wahl: Sie starben, damit Aventurien lebe." Sie schlug das Boronsrad über die Trauergemeinde, und diese ordnete sich zum schweigenden Auszug.
Ein Spalier mit brennenden Fackeln erstreckte sich vom Tempel des Sieges in Richtung des Flusses Chabab. Als die schwankende Silhouette des Leichnams im hell erleuchteten Portal erschien, legte sich eine tiefe Stille über die Menge. Das Spalier reichte zur Furt der Thalionmel. Ein Nachen lag hier auf den Strand des Chabab gezogen. Scheite von Rosenholz waren darin aufgeschichtet und mit wohlriechenden Ölen getränkt. Cedors letzte Liegestatt. Das Heck ruhte noch im Sand des Diesseits, der wellenumspülte Bug wies bereits ins Jenseits. |
Im Namen Golgaris,
Tizzo und Tilfur traten vor. Die Zwillinge hoben die Hände zum Eid im Chor. Tausende schwiegen totenstill. "Vater, in dieser Stunde, vor deinem Leichnam, bei diesem Feuer, schwören wir dir: Du wirst in uns auferstehen. Blut von deinem Blut, Blut von unserm Blut: dein Erbteil bis ans Ende aller Zeiten. Aut Cedor Aut Nihil."
Es kommt ein Schiff gefahren, / gefüllt bis an sein Bord, Michael Hasenöhrl
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