Das größte deutsche Fantasy-Epos? So jedenfalls bezeichnet der bekannte Autor Wolfgang Hohlbein laut dem Schutzumschlag
Die Gezeitenwelt, für die sich so bekannte Autoren wie Thomas Finn, Hadmar von Wieser, Karl-Heinz Witzko - und Bernhard Hennen verantwortlich zeigen, dessen Roman
Der Wahrträumer den Anfang dieser neuen Reihe markiert und hier rezensiert wird.
Man mag sich fragen, inwiefern es legitim ist einen Fantasy-Zyklus schon mit Superlativen zu belegen, wenn gerade mal ein Roman davon (zum damaligen Zeitpunkt) erschienen ist und denkt sich seinen Teil, vor allem, daß ja auch die Autoren Bernhard Hennen und Wolfgang Hohlbein bei Projekten wie
Das Jahr des Greifen dem Vernehmen nach gut zusammengearbeitet haben.
Die Gezeitenwelt - der Zyklus
Die Geschichte der Gezeitenwelt spielt vor dem Hintergrund einer mittelalterlichen Gesellschaft, die durch die Katastrophe eines einschlagenden Kometen völlig aus den Angeln gerät. Die ersten fünf (ehemals vier) der 13 geplanten (ursprünglich waren 12 geplant, doch der dritte Band wurde zu umfangreich und zweigeteilt) beschreiben die Situation der Welt zum Zeitpunkt der Katastrophe, während es in den späteren Büchern um die Ereignisse Jahre bzw. Jahrzehnte später - der ganze Zyklus soll rund 50 Jahre umfassen. Durch den Kometeneinschlag verändert sich die Welt - nicht nur z.B. dadurch, daß durch die verschmutzte Atmosphäre die Sterne nicht mehr zu sehen sind oder topologische Änderungen gerade in den Küstenregionen die Landschaften bestimmen - auch eine Art Magie erfasst die Gezeitenwelt, die auch so schon aufgrund der massiven Auswirkungen des Kometeneinschlags in ihren Grundfesten erschüttert wird.
Die Gezeitenwelt - die Autoren
An der Gezeitenwelt schreiben vier bekannte DSA-Autoren - als da wären Bernhard Hennen, Thomas Finn, Hadmar von Wieser und Karl-Heinz Witzko. Ohne hier großartig zu übertreiben kann man diese vier Autoren schon als die mit beliebtesten DSA-Autoren bezeichnen, sei es nun im Romanbereich oder aber bei Abenteuern oder Spielhilfen.
Für die Gezeitenwelt firmieren sie inzwischen unter dem gemeinsamen Pseudonym Magus Magellan - was schlicht und ergreifend den Vorteil bietet, dass alle Romane der Serie unter ein- und demselben Buchstaben im Buchhandel einsortiert werden können.
Doch nicht nur diese vier Autoren arbeiten an der Gezeitenwelt - unterstützt werden sie auch durch ein interdisziplinäres Team an Wissenschaftlern, die dafür Sorge tragen, dass die ganzen Geschichten in sich stimmig sind und nicht einfach Fantasy-Elemente als deus-ex machina unlogische Stellen überbrückt.
Die Gezeitenwelt - Band 1: Der Wahrträumer
Bernhard Hennen, quasi der "Erfinder" der Gezeitenwelt, beschreibt in seinem Roman die Geschichte der Gezeitenwelt vor dem Hintergrund von vier verschiedenen Handlungssträngen:
- als erstes begegnet man der Walfängerin Alessandra, die als quasi Ausgestoßene erst dann Respekt und Anerkennung in ihrem Dorf erhält, als sie plötzlich unwahrscheinliches Glück hat. Doch dieses Glück ist nur von kurzer Dauer - denn sie soll ein Opfer bringen: sich selbst.
- Francisco, der Abgesandte der mächtigen Kirche, wurde zu dem kleinen Dorf im Norden geschickt um ein Opfer zu suchen - und so begegnet er Alessandra, die zwar anfänglich mehr oder weniger kooperiert, jedoch dann seine heilige Mission torpediert (im wahrsten Sinne des Wortes).
- Seruun, der junge Schamanen-Novize, hat die Aufgabe sein Volk vor dem langen Winter zu retten, doch der (titelgebende) Wahrträumer muß mit seinen Ängsten, Befürchtungen und Feinden - zu denen auch sein eigener Vater gehört - lernen umzugehen.
- Joacino, der erfolgreiche Feldherr, gerät mit den von ihm kommandierten Truppen mitten in das Chaos, welches der Komet auf der Gezeitenwelt anrichtet - und muß nun alleine das Schicksal seiner Soldaten sichern.
Bernhard Hennen schafft es die einzelnen Handlungen anfangs unabhängig voneinander zu erzählen - in einzelnen Kapiteln, die teilweise von einer geheimnisvollen Dolores rückblickend kommentiert eingeleitet werden - und dabei den Leser stets zu fesseln. Zwar springen die Handlungsstränge häufig, doch niemals so sehr (auch aufgrund der Kapitellänge), dass man Probleme hat diese zu verfolgen.
Die Protagonisten werden plastisch geschildet, ihre Handlungen und Motivationen erscheinen logisch - und somit gibt es auch keinen klar charakterisierten Bösewicht, denn auch die Personen, die scheinbar "schlecht" handeln, haben ihre guten Gründe dafür.
Die Gezeitenwelt wird vor dem inneren Auge lebendig, erscheint wirklich realistisch - wobei dies nicht unbedingt nur den zu Rate gezogenen Experten zu verdanken ist, schließlich ist die Gezeitenwelt an die irdische Vergangenheit angelehnt - und fantastische Elemente, die bei übermäßigen Einsatz eine beschriebene Welt zu einem Zerrbild machen können, bilden hier - überraschenderweise für einen Fantasy-Roman - fast schon die Ausnahme. Als Leser lernt man viel über die die gesellschaftlichen Strukturen der im Roman vorkommenden Völker und merkt deutlich, dass sich der Autor hirebei etwas gedacht hat. Dennoch werden viele Details nur kurz angerissen werden - wie auch viele andere Dinge in diesem Roman als kurz angerissen erscheinen. Hier scheint man wirklich auf die nächsten Bände warten zu müssen, um alle Geheimnisse, die en passant erwähnt werden, aufdecken zu können... was natürlich kein unerwünschter Nebeneffekt der Autoren ist.
Die Gestaltung
Das (oben abgebildete) Hardcover-Buch ist edel ausgestattet - neben dem obligatorischen Schutzumschlag gibt es auch ein Lesebändchen und schöne Illustrationen im Inneren des Romanes:
Die Gezeitenwelt-Romane werden durch ein festes Illustratoren-Team, bestehend aus Caryad und Franz Vohwinkel, grafisch gestaltet. Während Franz Vohwinkel, der z.B. für die Catan-Spiele Illustrationen anfertigte, zeichnet sich bei der Gezeitenwelt für die Landkarten verantwortlich, die den einzelnen Bänden sowohl am Anfang als auch am Ende beigefügt sind. Caryad, eine der bekanntesten DSA-Zeichnerinnen, sorgt hingegen mit ihrem bekannten Stil für besonders schöne Impressionen von der Gezeitenwelt.
Fazit
Der Wahrträumer ist wirklich zu empfehlen - keine Frage! Die Geschichten werden spannend erzählt, die Protagonisten werden plastisch geschildert und wirken nicht konstruiert - und nach dem Lesen dieses Romanes will man unbedingt sofort den zweiten Teil lesen, so sehr fesselt die Geschichte um die Gezeitenwelt.
Doch sollte auch Kritik erwähnt werden - es mutet recht merkwürdig an, daß am Ende des Romanes die letzten Geschehnisse quasi auf einer Doppelseite abgehandelt werden, während vorher deutlich unwichtigere Geschehnisse fast schon in epischer Breite geschildert werden. Hier gewinnt man den Eindruck, daß man zu spät das Seitenlimit beachtet hat.
Außerdem muß man bemängeln, daß einem mehr (ruhig allgemeine) Hintergrundinformationen zur Gezeitenwelt an sich fehlen - wenn man bedenkt, daß im Anhang des zweiten Romans sich just diese Informationen finden, muß man sich bzw. den Autoren oder den Verlag fragen, warum dieser wertvolle und informative Text nicht schon im Wahrträumer zu finden war. Wahrscheinlich - aufgrund des "gerafften" Endes ergibt sich dieser Eindruck - lag es wohl einfach am Seitenlimit. Doch gerade ein so erfahrener Autor wie Bernhard Hennen müßte eigentlich beim Schreiben gut mit solchen Limits umgehen können.
Nichtsdestotrotz bleibt Der Wahrträumer ein empfehlenswerter Roman der auf die kommenden Bände neugierig macht und schon der erste Band des Zyklus zeigt, welches Potential diese Reihe hat!
Siehe auch:
